Wenn es um die Planung erdbebensicherer Gebäude in Deutschland geht, müssen Ingenieurinnen und Ingenieure stets über die aktuelle Normensituation informiert sein. Werden neue Normen aufgelegt, braucht es einige Zeit, bis die neuen Normen nicht nur „gültige Norm“, sondern auch als bauaufsichtlich eingeführte technische Baubestimmung zur „gesetzlichen Vorschrift“ werden. So ist es nun seit 12 Jahren bei der Erdbebenbemessung. Im Jahr 2011 wurde mit der DIN EN 1998-1/NA:2011 die deutsche Spezifikation des Eurocode 8 veröffentlicht, und die DIN 4149 zurückgezogen.
Bis zum Juli 2021 hatte das nur geringfügige Folgen, da sich die alte DIN 4149:2005 und die neue DIN EN 1998-1/NA in den grundlegenden Dingen recht ähnlich waren. Mit der DIN EN 1998-1/NA:2021 wurden aber erstmals die neuen Erdbebenkarten für Deutschland (in Form von spektralen Antwortbeschleunigungen) im Weißdruck veröffentlicht. Im Klartext heißt das, die Erdbebengefährdung wurde neu ermittelt und unterscheidet sich von den Lasten in der alten Norm teilweise erheblich. Für viele Standorte sind die Lasten höher. Im November 2023 wurde die DIN EN 1998-1/NA:2023-11 veröffentlicht, in die zusätzlich die neuen Untergrundkarten aus dem Normenentwurf der DIN EN 1998-1/NA/A1:2023-02 integriert wurden.
Bei der Frage, nach welcher Norm Gebäude in deutschen Erdbebengebieten ausgelegt werden sollten, spielen im Wesentlichen zwei Aspekte eine Rolle, die genehmigungstechnische, also „gesetzliche” Seite und die zivilrechtliche Seite, die festlegt, welchen Standard ein Planer dem Kunden schuldet. Diese definieren sich wie folgt:
1. Bauordnungsrechtliche Anforderungen (Technische Baubestimmungen):
Damit ein Bauvorhaben genehmigungsfähig ist, müssen die Technischen Baubestimmungen von allen am Bau beteiligten Personen bei der Planung, Berechnung, Ausführung und baurechtlichen Überprüfung von baulichen Anlagen beachtet werden. Von ihnen kann abgewichen werden, wenn mit einer anderen Lösung in gleichem Maße die Anforderungen erfüllt werden. [5]
2. Zivilrechtliche Anforderungen, die sich aus dem BGB [3] und der VOB/B [4] ergeben:
Architekten und Ingenieure als Planer haben entsprechend BGB und VOB/B bei ihrer Planungsleistung die allgemein anerkannten Regeln der Technik zu beachten. Die Beachtung der allgemein anerkannten Regeln der Technik wird als Mindeststandard bei der Planung von Bauvorhaben geschuldet. Eine Nichteinhaltung der anerkannten Regeln der Technik stellt somit einen Mangel dar.
Die für die Genehmigungsseite geltende Norm ist im Falle der Erdbebenbemessung zur Zeit noch die DIN 4149. Dies ist in den VVTB (Verwaltungsvorschrift Technische Baubestimmungen) der Länder nachzulesen. Die Frage, welche Norm die allgemein anerkannten Regeln der Technik darstellt, ist nicht ganz so einfach zu beantworten. Als allgemein anerkannte Regeln der Technik gelten gemäß [6] Regeln, die
Die allgemein anerkannten Regeln der Technik können dabei durch eine Norm beschrieben werden. Existiert eine Norm, ist die grundlegende Vermutung, dass diese Norm die allgemein anerkannten Regeln der Technik darstellt.
Das Zurückziehen einer Norm bedeutet, dass sie nicht mehr mit den aktuellen Praktiken, dem Wissen und den Fortschritten auf diesem Gebiet übereinstimmt. Es ist somit naheliegend, dass die DIN EN 1998-1/NA:2023-11 die allgemein anerkannten Regeln der Technik darstellt.
Eine juristische Beratung der Autorin bestätigte diesen Sachverhalt.
Die Lage ist eigentlich eindeutig: Für die Genehmigungsfähigkeit eines Bauvorhabens reicht es derzeit aus, die DIN 4149 zu verwenden. Für ein mängelfreies Gebäude sind unbedingt mindestes die Einwirkungen aus der DIN EN 1998-1/NA zu beachten. Des Weiteren muss damit gerechnet werden, dass wenn heute mit der Planung eines Gebäudes begonnen wird, bis zu dessen Übergabe an den Kunden die DIN EN 1998-1/NA als technische Bauvorschrift eingeführt sein wird.
Möchte nun ein Kunde oder Auftraggeber ausdrücklich, dass sein Bauvorhaben nach den Vorgaben der DIN 4149 bemessen wird, empfiehlt es sich für uns Planer eine Enthaftung vorzunehmen. Enthaftung heißt, dass der Kunde vollumfänglich über alle Folgen und Risiken aufgeklärt werden muss und dies am besten vertraglich festgehalten wird. Eine rechtliche Beratung ist hier unbedingt anzuraten! Wir Planer, als Fachleute, sind grundsätzlich zuerst in der Haftung!
Eine schnelle Einführung der (ganzen) DIN EN 1998-1/NA als technische Baubestimmung wäre konsequent und würde uns Planern in dieser Situation Sicherheit geben.
Ein Erdbeben stellt eine außergewöhnliche Bemessungssituation dar. Für Katastrophenlastfälle ist die statistische Bewertung von Gefährdungen das Mittel der Wahl, da es auf Grund der fehlenden Regelmäßigkeit keine „echte Daten“, wie etwa Materialwichten oder Nutzlasten gibt. Die Gefährdung, die den neuen Erdbebenlasten zu Grunde liegt, wurde auf Grundlage von Informationen über seismische Verwerfungen, Bodenschichtungen und -beschaffenheiten, sowie der Kenntnis über gemessene und historische Erdbeben ermittelt. Über deterministische und probabilistische Risikoanalysen wurden standortgenaue Spektralbeschleunigungen ermittelt, die mit einer statistischen (Referenz-) Wiederkehrperiode einhergehen.
Grünthal und Ch. Bosse, auf deren (intensitätsbasierte) Berechnungen bereits die Zonierung der Erdbebenkarten in der DIN 4149 erfolgte, haben in [7] zusammen mit D. Stomeyer unter Verwendung von GMPE (Ground Motion Prediction Equation) bereits 2007 neue standortspezifische Einwirkungen vorgestellt und damit ihre eigene Arbeit korrigiert. Eine Überarbeitung war laut [7] erforderlich, da sich die Möglichkeiten zur probabilistischen Einschätzung der Erdbebengefährdung seit 1996 deutlich verbessert haben. Es hat in diesem Bereich zahlreiche Innovationen bezüglich der Daten, der Modelle und der Methoden der PSHA (probability seismic hazard analysis) gegeben. Zudem ist eine rein intensitätsbezogene Risikoanalyse fachlich nach heutigen Erkenntnissen nicht mehr ausreichend.
Bei der Intensitätsskala handelt es sich um eine Bewertung der Auswirkungen eines Erdbebens. In die Bewertung geht ein, was die Menschen gespürt haben, und welche Schäden entstanden sind. Eine direkte Überführung in Bemessungsparameter ist nicht möglich, nur eine Abschätzung. Die Intensitätsskala ist wichtig als Bewertungsmaßstab für Erdbeben, über die keine Messdaten existieren, kann aber heute nicht mehr die Basis für eine Risikobewertung sein.
Abbildung 2 zeigt das aus den Messdaten einer Messstation in Straßburg abgeleitete Beschleunigungs-Antwortspektrum des induzierten Erdbebens vom 26.06.2021 mit Epizentrum in La Wanzenau bei Straßburg im Vergleich zu den elastischen Antwortspektren der DIN 4149 und der DIN EN 1998-1/NA für den Standort Kehl. Da das gemessene Beben gemäß Aufzeichnung als Fels-Spektrum charakterisiert ist, werden zum Vergleich ebenfalls die elastischen Spektren für die Untergrundkombination A-R verwendet. Es ist deutlich zu erkennen, dass die Spektralbeschleunigungen des Erdbebens am 26.06.2021 im Bereich um T=0,1s das Spektrum der DIN 4149 bei weitem überschreiten und selbst das Spektrum der DIN EN 1998-1/NA noch überschritten wird. Eine Bemessung mit den Spektren aus unseren Normen wäre für dieses Beben nicht abdeckend. In der Gegend gibt es Schäden an zahlreichen Gebäuden. Ein gutes Beispiel dafür, dass die „neuen Erdbebenlasten“ nicht zu hoch sind!
Kleiner Exkurs:
Dem findigen Leser drängt sich nun die Frage auf, ob man ein als „induziert“ eingestuftes Erdbeben zum Vergleich heranziehen sollte. Das Beben geht auf die Aktivitäten eines Geothermiekraftwerkes bei Straßburg zurück, bei dem in einer Tiefe von über 4000m im Grundgestein mit hohen Drücken gearbeitet wurde. In dieser seismisch aktiven Region wurden hierdurch mehrere Erdbeben ausgelöst. Als Antwort bieten sich zwei Möglichkeiten an:
1. Durch die hohen Drücke im Gestein haben sich natürliche Spannungen gelöst und die zusätzlich durch das Unternehmen eingebrachte Energie ist relativ unerheblich. Für den Fall wäre das induzierte Beben mit einem Natürlichen vergleichbar und der Vergleich erlaubt.
2. Die eingebrachten Drücke spielen eine erhebliche Rolle. Dann wäre das Beben nicht vollständig mit einem natürlichen Beben vergleichbar, aber auf Grund seiner Stärke für die Bemessung nicht unerheblich. Wissenschaftliche Untersuchungen zu diesem Thema wären interessant, denn bei der Anzahl an Geothermievorhaben, die aktuell im Oberrheingraben in Planung sind, wäre eine Relevanz für die Erdbebenbemessung zu prüfen!
Wenn ich mit Kolleginnen oder Kollegen über dieses Thema spreche, höre ich Argumente wie „Die neuen Erdbebenlasten sind viel zu hoch, das ist doch unrealistisch“, „Keiner will diese Norm, die wird niemals eingeführt“, oder „bei der Ermittlung der neuen Erdbebenlasten wurden die falschen Werte verwendet“. Viele Kunden wollen nur ausführen, was unbedingt nötig ist. Die Tatsache, dass Bauen im Ganzen sehr aufwändig und kompliziert und – nicht zuletzt in der jüngsten Vergangenheit – auch deutlich teurer geworden ist, veranlasst viele, nach Einsparmöglichkeiten zu suchen. Diese finden sie dann in der Verwendung der niedrigeren Erdbebenlasten der DIN 4149. Einige Kolleginnen und Kollegen sind dabei gerne behilflich…
Diese zweifelhafte Informationslage ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass von Seiten der Baustoffindustrie massiver Widerstand gegen die neu ermittelten Spektralbeschleunigungen ausgeübt wurde. Ein Positionspapier der DGfM argumentiert damit, dass im Falle höherer Bemessungslasten höhere Kosten für Neubauten entstehen, eine Überprüfung und ggf. Ertüchtigung von Bestandsgebäuden erforderlich wird, sowie der Katastrophenschutz angepasst werden müsse.
Mir seinen an dieser Stelle zwei Denkanstöße erlaubt:
Glauben Sie nun immer noch, die Erdbebenkarte in der alten Norm ist der Gefährdungseinschätzung der DIN 1998-1/NA vorzuziehen?
Dipl.-Ing. Claudia Wuttke ist Spezialistin für Erdbebennachweise, Bodendynamik und spezielle Tragstrukturen und betreibt im baden-württembergischen Kehl die „WAVE-ING IngenieurWerkstatt“. Wo bei vielen anderen Ingenieurbüros Erfahrung oder technische Möglichkeiten aufhören, fangen ihre Aufgaben an. Die Ingenieurin ist Mitglied im BDB und beschreib in ihrer Serie, warum Planer:innen beim Thema Erdbebensicherheit stets über die aktuelle Normensituation informiert sein müssen – und warum es da zurzeit große Unsicherheit gibt.